Interview mit C.Strack, Deutsche Welle:

Die Erkenntnis entsteht im Kreis

Herr Becker, Sie haben 2014 in Ihrer Goldschmiede die Soziokratische Kreismethode (SKM) eingeführt.

Wie kam es dazu?

Bevor ich mich selbständig machte, habe ich als Mitarbeiter in verschiedenen Betrieben erlebt, wie demotivierend es war, mit meinen Interessen und Ideen von Vorgesetzten nicht wahrgenommen zu werden. Später als Arbeitgeber habe ich immer wieder erfahren, dass Mitarbeiter zwar gerne mitbestimmten, aber nicht bereit waren, die Konsequenzen zu tragen: Freiheit ja, Verantwortung nein.

Also habe ich mir gesagt:

Es mag Arbeitgeber geben, die das Potential ihrer Mitarbeiter nicht schätzen und Arbeitnehmer, die die Verantwortung ganz ihrem Chef zuschreiben. Ich wollte ein Arbeitgeber sein, der die Talente und Ideen seiner Mitarbeiter nicht nur fördert, sondern auch in wichtige betriebliche Entscheidungen und Entwicklungsprozesse mit einbezieht. Ich musste nur noch die passenden Mitarbeiter finden – dachte ich mir. Schnell habe ich festgestellt, dass alle Potentiale und guten Vorsätze nicht viel nützen, wenn  mir die Methodik für die tägliche Umsetzung fehlt.

Und da kam mir der Zufall zu Hilfe: Auf einem Seminar gab es eine Gruppenleitung, die es verstand alle Teilnehmer „mitzunehmen“ und gleichzeitig in der gegebenen Zeit ein konstruktives Ergebnis zu erarbeiten. Das war eine neue Erfahrung für mich.

Durch Gespräche mit der Gruppenleitung lernte ich die Soziokratische Kreismethode (SKM) kennen und habe sie meinem Team vorgestellt.

So kam es zu dem Entschluss meines Teams, die SKM einzuführen.

Was ist das Besondere an der SKM?

Die SKM bietet die Methodik, um alle Sichtweisen zu hören und in die Meinungsbildung mit ein zu beziehen und so viel bessere Entscheidungen zu fällen als es bei rein hierarchischen Prozessen üblich ist.

Oftmals ist es am schwierigsten betriebliche Notwendigkeiten und private/individuelle Bedürfnisse in einen Ausgleich, oder besser gesagt in einen Einklang zu bringen.

Durch die Kreisstruktur erhält jedes Teammitglied den Raum seine Ideen, Fragen und Meinungen zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig weiß jeder, dass seine Ideen, Fragen und Meinungen notwendig sind, um tragfähige Entscheidungen zu fällen, die eine gute Team- und Unternehmensentwicklung ermöglichen.

Für uns ist das Auffälligste, dass plötzlich diejenigen zu Wort kommen, die sonst eher zurückhaltend sind. Und die Dauerredner merken, wie wichtig es ist, den anderen Freiraum zum Reden zu lassen, wie sehr es verbindet und Kreativität freisetzt, wenn die anderen Teammitglieder die gleichen Gedanken haben und wie bereichernd es ist, von anderen völlig neue Sichtweisen und Argumente zu hören.

Durch den offenen Austausch von Gedanken und Erfahrungen aller können wir immer wieder Lösungen entwickeln, die völlig neu sind.

Jede Entscheidung wird im Konsent gefällt. Das bedeutet: Niemand äußert einen schwerwiegenden und argumentierten Einwand gegen die gemeinsam erarbeitete Beschlussvorlage. So übernimmt jeder Verantwortung für die Umsetzung der gemeinsamen Entscheidung und trägt seinen Teil zum Gelingen bei.

Solange jemand einen schwerwiegenden Einwand hat, können andere Teammitglieder  ihn durch neue Argumente überzeugen oder der Entscheidungsvorschlag wird im Kreis neu formuliert.

So wird niemand überstimmt oder kann sich mit einer Enthaltung aus der Verantwortung ziehen.

Gleichzeitig sind die gefällten Entscheidungen nicht statisch! Sobald ein Teammitglied bemerkt, dass der eingeschlagene Weg nicht der Erreichung unserer Ziele dient, kann der Beschluss revidiert und neu ausgerichtet werden.

Welche Themen werden bei Ihnen nach der SKM besprochen und entschieden?

Durch diese geordnete Kommunikationsstruktur konnten wir uns effektiv grundlegende  Themen  erarbeiten:

Was braucht das Unternehmen als Organismus, der aus Chef und Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden, Vermieter und Nachbarn sowie anderen Eignern von berechtigten Interessen besteht?

Welchen gesamtgesellschaftlichen Zweck erfüllen wir als Unternehmen?

Welche Aufgaben bestehen innerhalb des Unternehmens?

Wer übernimmt welche Aufgaben?

Wer hat die Leitungsverantwortung und wer die Ausführungsverantwortung?

Neben diesen wichtigen Themen, werden alle im Alltag anstehende Fragen besprochen bis hin zu Fragen wie:

Wofür wollen wir wie viel Geld investieren?

Wie wählen wir neue Mitarbeiter aus?

Wie gehen wir damit um, wenn ein Mitarbeiter seine Funktion im Unternehmen nicht gut oder gut genug erfüllt?

Wie trennen wir uns von Mitarbeitern, die nicht mehr in den Organismus des Unternehmens passen?

Irgendwann kann es zu der Frage kommen, ob ich die Funktion der Unternehmensleitung gut genug erfülle. Wenn es dann jemanden gibt, der dies gerne übernimmt und ich mich auf Aufgaben konzentrieren kann, bei denen ich dem Unternehmen optimal diene, kann es sein, dass jemand anderes aus dem Team die Unternehmensleitung übernimmt.

Das Ganze ist ein vitaler Prozess, der es dem Einzelnen ermöglicht zu lernen und sich zu entwickeln.

 

Haben Sie nicht Angst, in wichtigen Entscheidungen überstimmt zu werden?

Nein, denn ein Grundsatz der soziokratischen Kreismethode ist, dass die besseren Argumente zählen und nicht, von wem etwas gesagt wird. Wenn also jemand anderes aus meinem Team ein zielführenderes Argument hat als ich, ist es doch nur klug, wenn ich mich dieser Meinung anschließe. Die Änderung der eigenen Meinung aufgrund von besseren Argumenten ist bei der Soziokratischen Kreismethode durchaus erwünscht, denn sie ist Zeichen eines wachen Geistes.

Wenn ich schwerwiegende Einwände gegen einen Beschluss habe, bin ich gefordert (wie jedes andere Teammitglied auch) meinen Konsent zu verweigern. Ich muss dann sachlich begründen, weshalb ich die Beschlussvorlage für kontraproduktiv halte.

Dann kann die Beschlussvorlage so formuliert werden, dass der Einwand berücksichtigt wird.

Dabei geht es nicht um die bis ins letzte Detail ausgefeilte Lösung, sondern darum einen Weg zu finden, der gut genug ist, um es auszuprobieren. Damit kommen wir schnell zu umsetzbaren und zielführenden Lösungen.

Klappt das immer gut?

Wir haben vor zwei Jahren die Soziokratische Kreismethode erlernt und in der Goldschmiede soziokratische Strukturen etabliert. Die Anfänge waren nicht einfach, da die Führung des Betriebs auf eine Leitung zugeschnitten war, die alles wissen und alle Entscheidungen treffen sollte.

Wir haben damit begonnen, verschiedene Aufgabengebiete zu definieren und für jedes eine Leitung gewählt.

Ich musste lernen, Verantwortung wirklich zu delegieren und meine Mitarbeiter mussten lernen, die Organisation ihrer neuen Aufgabenbereiche zu übernehmen. Anfangs fiel es mir schwer, Themen, die mir wichtig waren, abzugeben.

Gleichzeitig sollte ich immer wieder Entscheidungen fällen, die nicht mehr in meinen Verantwortungsbereich  gehörten. Es hat seine Zeit gedauert, bis wir hier Klarheit hatten und in unseren Alltag umgesetzt haben.

Wir haben auch festgestellt, dass es Menschen, die sehr stark an hierarchischen Strukturen festhalten, schwerfällt sich auf die Soziokratische Kreismethode einzulassen oder diese konsequent umzusetzen. Bei der SKM geht es nicht darum, ob jemand einen Posten hat, sondern ob man die Funktion gut erfüllt, für die man die Verantwortung übernommen hat.

Was hat sich bisher verändert?

Die neue Struktur schafft dort Klarheit, wo ich früher unsicher war. Entscheidungen wurden auf unterschiedliche Weise gefällt. Das eine Mal haben wir alle zusammen entschieden, ein anderes Mal habe ich den Knoten alleine gelöst. Das war verunsichernd.

Wir waren sehr im Alltagsgeschäft, im Hier und Jetzt gefangen. Deshalb hatten wir nicht genug Aufmerksamkeit für die Organisation der eigenen Strukturen. Jetzt gibt es eigene Kreise für die Kunden, Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltung, die sich regelmäßig treffen. Im Gegensatz zu früher habe ich jetzt mehr Zeit für Dinge wie Analyse des Einkaufs der letzten Jahre, langfristige Planung und Strategie. Es ist gut für das Unternehmen, mehr Aufmerksamkeit auf diese Themen zu lenken.

Ein Grundprinzip der SKM ist das Kybernetische Prinzip, bei dem die Funktionen Leiten, Ausführen und Messen nacheinander und nebeneinander ablaufen. Dieses Prinzip wenden wir in fast allen Bereichen an wie bei der Organisation unserer Abläufe, bei der Durchführung von Projekten und bei der kontinuierlichen Leitung der Mitarbeiter.

Was haben Ihre Kunden davon?

Die Vorteile für unsere Kunden liegen auf der Hand:

Wir begegnen unseren Kunden auf Augenhöhe. So wie wir im Team respektvoll und aufmerksam miteinander umgehen, so hören wir unseren Kunden zu, um deren Wünsche besser zu verstehen und sie gut beraten zu können. Unser Ziel ist es, gemeinsam mit unseren Kunden Lösungen zu entwickeln, bei denen die Gestaltung, die Handhabung und der Preis eines Schmuckstückes den Wünschen unserer Kunden entsprechen.

Unsere Kunden begegnen motivierten und engagierten Mitarbeitern mit klaren Verantwortungsbereichen, da wir die Struktur unserer Abläufe verbessert haben und alle Mitarbeiter an den Entscheidungsprozessen und am Erfolg beteiligt sind. So konnten wir die Auftragsbearbeitung schneller und noch zuverlässiger gestalten.

Unsere Kunden können Einfluss nehmen: da wir uns als lernbereites und entwicklungsfähiges Team sehen, benötigen wir die Rückmeldungen unserer Kunden. So können wir nicht nur die individuellen Wünsche besser erfüllen, sondern auch unsere gesellschaftliche Verantwortung situationsgerechter leben.

Wenn wir die SKM noch weiter in unser betriebliches Denken und Handeln integriert haben, wollen wir einen Kundenbeirat einrichten, in dem sich unsere Kunden mit Ihrer Expertise und ihren Perspektiven einbringen können. 

Wohin soll sie der Weg führen?

Als unsere Vision haben wir formuliert: Jeder Mensch hat Raum zum Ausleben seiner Individualität, seiner Werte und Ideale. Gleichzeitig leistet jeder freiwillig seinen Beitrag für ein gutes Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit und im Einklang mit der Natur.

Mit der soziokratischen Kreismethode wollen wir uns diesem Ideal nähern.